Wie ist die Sexualaufklärung regional organisiert?
Die staatlichen Schulen in der Schweiz haben einen gesetzlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag zu erfüllen. Dieser formuliert den Anspruch, allen Schüler_innen zu einer eigenständigen Persönlichkeit zu verhelfen. Sie sollen beim Erwerb sozialer Kompetenzen unterstützt werden, um verantwortungsvoll gegenüber Mitmenschen und Umwelt zu handeln. Bildung zur sexuellen Gesundheit wird im Kontext der Schule als schulische Sexualaufklärung bezeichnet. Sie ist in den sprachregionalen Lehrplänen (Plan d'études romand PER, Lehrplan 21 und Piano di studio della scuola dell’obbligo ticinese) integriert und wird unterschiedlich umgesetzt:
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In der deutschen Schweiz sind in der Regel die Lehrpersonen für Sexualaufklärung zuständig. Es existiert eine Vielfalt an verschiedenen Modellen, welche von den jeweiligen Schulen oder Lehrpersonen abhängig sind. Darunter finden sich umfassende Angebote, aber auch solche, die sich auf die minimale Vermittlung von Informationen, meistens zu Biologie und Fortpflanzung, beschränken, wobei Beziehungsaspekte und soziale Komponenten ausser Acht gelassen werden.
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In der französischen Schweiz hat sich bereits seit über 30 Jahren ein Modell etabliert, bei dem externe Fachpersonen der sexuellen Gesundheit eine kontinuierliche Sexualaufklärung in der Schule anbieten. Die Akzeptanz der Eltern gegenüber dieser Tradition ist gross und das Angebot wird geschätzt.
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In der italienischen Schweiz sind die Lehrpersonen für die Sexualaufklärung verantwortlich. Eine Gruppe von Ausbildungscoaches steht den Lehrpersonen zur Verfügung, um sie bei der Umsetzung dieser Aufgabe zu unterstützen. In der Sekundarschule und im post-obligatorischen Bereich intervenieren externe Fachpersonen der sexuellen Gesundheit, um die Sexualaufklärung zu ergänzen (spezifische Interventionen zum Thema der sexuellen Gesundheit).
SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz setzt sich für das Kooperationsmodell ein, bei dem sich Lehrpersonen und externe Fachpersonen der sexuellen Gesundheit ergänzen, was die Qualität des Unterrichtes fördert.(1)
Lehrplan 21 (LP 21)
Lehrplan 21 - von der D-EDK Plenarversammlung am 31.10.2014 zur Einführung in den Kantonen freigegebene Vorlage. Bereinigte Fassung vom 29.02.2016.
Sexualaufklärung im Lehrplan 21: Kommentierter Zusammenzug von SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz (2)
Die Kompetenzbeschreibungen zum Themengebiet Sexualaufklärung, sexuelle Gesundheit und sexuelle Rechte sind in der Schlussfassung des LP21 insgesamt gut repräsentiert; in qualitativ und quantitativ differenzierter Weise allerdings erst ab der 3. Klasse. Zwar orientieren sich die entsprechenden Kompetenzen im LP21 nicht an den Standards für Sexualaufklärung in Europa (WHO/BZgA 2010/2011), dennoch werden einige wichtige Inhalte dieser Standards in adaptierter Form im LP21 genannt. Der Vernehmlassungsprozess im Jahr 2014 hat diesbezüglich nicht zu einer Depriorisierung der entsprechenden Inhalte geführt, sondern eher zu einer höheren Differenzierung.
In Bezug auf den Beginn sexualkundlichen Unterrichts kann festgehalten werden, dass im 1. Zyklus (Kindergarten bis 2. Klasse) die Themen Missbrauch und basale Geschlechtsmerkmale angesprochen werden, dass aber Sexualaufklärung im engeren Sinn klar im 2. Zyklus, also ab der 3. Klasse (ca. 9-jährige Schüler_innen) verortet ist. Im 2. und 3. Zyklus sind die entsprechenden Inhalte allerdings relativ differenziert. Sie beinhalten insbesondere auch Aspekte der sexuellen Rechte, wie die Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen, Geschlechtsidentität und Diskriminierung. Die Inhalte sind ungefähr gleichmässig auf die Zyklen 2 und 3 verteilt. In Zyklus 3 (7. bis 9. Klasse) werden insbesondere auch die Themen HIV/STI, Medien und Pornografie, Prostitution und weitere angesprochen.
Erläuterungen
Alle Kompetenzen im Zusammenhang mit Sexualaufklärung, sexueller Gesundheit und sexuellen Rechten sind im Fachbereich «Natur, Mensch, Gesellschaft» (NMG) enthalten. NMG wird ab dem 3. Zyklus in die Teilbereiche «Natur und Technik» (NT; mit Physik, Chemie, Biologie), «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt» (WAH; mit Hauswirtschaft), «Räume, Zeiten, Gesellschaften» (RZG; mit Geografie und Geschichte) sowie «Ethik, Religionen, Gesellschaft» (ERG; mit Lebenskunde) unterteilt. Sexualkundliche Inhalte sind enthalten in NMG, NT und ERG.
Zu allen Teilbereichen werden im LP21 einleitend «Didaktische Hinweise» sowie «Strukturelle & inhaltliche Hinweise» gemacht. Auch dort figurieren Hinweise zu sexualkundlichem Unterricht. So wird bei den didaktischen Hinweisen z.B. auf die Arbeitsteilung zwischen Eltern und Schule und auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, Eltern über die entsprechenden Lehrveranstaltungen zu informieren. In den strukturellen Hinweisen figurieren die Querverweise zwischen den Teilbereichen innerhalb des NMG Kompetenzkataloges auch für die sexualkundlichen Inhalte.
Weiter enthält der Kompetenzaufbau eine Gliederung in «Zyklen», welche die Altersstufen beinhalten:
1. Zyklus (Z1): Kindergarten und 1./2. Klasse
2. Zyklus (Z2): 3. – 6. Klasse
3. Zyklus (Z3): 7. – 9. Klasse
Fachbereich NMG und Kompetenzen zu Sexualaufklärung
1. Teilbereich NMG (S.23-62)
NMG 1 «Identität, Körper, Gesundheit - sich kennen und sich Sorge tragen»
Kompetenz 2: Die Schülerinnen und Schüler können Mitverantwortung für Gesundheit und Wohlbefinden übernehmen und können sich vor Gefahren schützen.
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Z2, d: Schülerinnen und Schüler können sexuelle Übergriffe (z.B. sprachliche Anzüglichkeiten, taxierende Blicke, Berührungen, Gesten) und sexuelle Gewalt erkennen, wissen wie sie sich dagegen wehren und wo sie Hilfe holen können.
Kompetenz 5: Die Schülerinnen und Schüler können Wachstum und Entwicklung des menschlichen Körpers wahrnehmen und verstehen.
- Z1, a: «… können Körperveränderungen messen, beschreiben und zu Wachstum und Entwicklung des Menschen einordnen (z.B. grösser werden – stärker werden).» (Körpergrösse)
- Z1, b: «... können Unterschiede im Körperbau von Mädchen und Knaben mit angemessenen Wörtern benennen.»
- Z2, c: «... können über die zukünftige Entwicklung zu Frau und Mann sprechen.»
- Z2, d: «... erhalten die Möglichkeit Fragen und Unsicherheiten bezüglich Sexualität zu äussern.»
- Z2, e: «... können Veränderungen des Körpers mit angemessenen Begriffen benennen. (Stimmbruch, Menstruation)»
- Z2, f: «... verstehen Informationen zu Geschlechtsorganen, Zeugung, Befruchtung, Verhütung, Schwangerschaft und Geburt. (Bau und Funktion der Geschlechtsorgane)»
- Z2, g: «... können unter Anleitung die Qualität von ausgewählten Informationsquellen zu Sexualität vergleichen und einschätzen.»
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Z2, h: «... kennen psychische Veränderungen in der Pubertät (z.B. verstärkte Scham und Befangenheit, veränderte Einstellung zum eigenen Körper, erwachendes sexuelles Interesse) und wissen, dass diese zur normalen Entwicklung gehören.»
Kompetenz 6: Die Schülerinnen und Schüler können Geschlecht und Rollen reflektieren.
- Z1, a: «... können anhand von Beispielen Rollenverhalten beschreiben und vergleichen (z.B. Wer hat welche Aufgaben und Befugnisse? Wer trägt welche Kleidung? Wer pflegt welche Hobbys?).»
- Z1, b: «... können vielfältige Geschlechterrollen beschreiben (z.B. in Beruf, Familie, Sport) und wissen, dass Mädchen/Frauen und Jungen/Männer dieselben Rechte haben.»
- Z2, c: «... verwenden im Zusammenhang mit Geschlecht und Rollen eine sachliche und wertschätzende Sprache.»
- Z2, d: «... können Geschlechterrollen (z.B. Merkmale, Stereotypen, Verhalten) beschreiben und hinterfragen sowie Vorurteile und Klischees in Alltag und Medien erkennen.»
NMG 10: «Gemeinschaft und Gesellschaft - Zusammenleben gestalten und sich engagieren»
- 2. Freundschaft und Beziehungen
- Z1, b: «… können Merkmale von Freundschaft beschreiben (z.B. Zuneigung, geteilte Interessen) und eigene Erwartungen reflektieren.»
- Z2, d: «… können Qualitäten von Freundschaft und Liebe beschreiben (z.B. Zuneigung, Vertrauen, Gleichberechtigung).»
- Z2, e: «… setzen sich mit dem Zusammenhang von Freundschaft, Liebe und Sexualität auseinander.»
2. Teilbereich NT (Seite 64-81)
NT7: «Körperfunktionen verstehen»
Kompetenz 3: Die Schülerinnen und Schüler verfügen über ein altersgemässes Grundwissen über die menschliche Fortpflanzung, sexuell übertragbare Krankheiten und Möglichkeiten zur Verhütung.
- Z3, a: «... kennen die Wirk- und Anwendungsweise verschiedener Mittel und Methoden zur Empfängnisverhütung und können deren Risiken und Nebenwirkungen vergleichen. (Fortpflanzung, Verhütung)»
- Z3, b: «... wissen um die Verantwortung beider Geschlechter für Empfängnis und Verhütung.»
- Z3, c: «... kennen Krankheiten, die häufig sexuell übertragen werden, und können erläutern, wie man sich davor schützt. (HIV, Geschlechtskrankheiten)»
- Z3, d: «... kennen altersgemässe Medien und Informationsquellen zur Sexualaufklärung.»
3. Teilbereich ERG (S. 115-123)
ERG5: «Ich und die Gemeinschaft - Leben und Zusammenleben gestalten»
Kompetenz 1: Die Schülerinnen und Schüler können eigene Ressourcen wahrnehmen, einschätzen und einbringen.
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Z3, c: «... kennen Anlaufstellen für Problemsituationen (z.B. Familie, Schule, Sexualität, Belästigung, Gewalt, Sucht, Armut) und können sie bei Bedarf konsultieren. (Beratung, Therapie, Selbsthilfe)» [NEU: Sexualität]
Kompetenz 2: Die Schülerinnen und Schüler können Geschlecht und Rollen reflektieren
- Z3, a: «... können Erfahrungen und Erwartungen in Bezug auf Geschlecht und Rollenverhalten in der Gruppe formulieren und respektvoll diskutieren (z.B. Bedürfnisse, Kommunikation, Gleichberechtigung).»
- Z3, b: «... können Darstellungen von Männer- und Frauenrollen sowie Sexualität in Medien auf Schönheitsideale und Rollenerwartungen analysieren und Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung kritisch betrachten.»
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Z3, c: «... kennen Faktoren, die Diskriminierung und Übergriffe begünstigen und reflektieren ihr eigenes Verhalten. (Klischee, Vorurteile, Abhängigkeit, Übergriffe)»
Kompetenz 3: Die Schülerinnen und Schüler können Beziehungen, Liebe und Sexualität
reflektieren und ihre Verantwortung einschätzen.
- Z3, a: «... reflektieren eigene Erwartungen und Ansprüche in ihrem Umfeld an Beziehungen, Freundschaften, Partnerschaft und Ehe. (Freundschaft, Partnerschaft, Ehe)»
- Z3, b: «... verbinden Sexualität mit Partnerschaft, Liebe, Respekt, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung und können sexuelle Orientierungen nicht diskriminierend benennen. (Hetero-, Homosexualität)»
- Z3, c: «... kennen ihre Rechte im Umgang mit Sexualität und respektieren die Rechte anderer. (Selbstbestimmung, Schutzalter, sexuelle Orientierung, Schutz vor Abhängigkeit und Übergriffen)»
- Z3, d: «... können Verhaltensweisen und ihre Auswirkungen im Bereich Sexualität kritisch beurteilen. (Risiken, Übergriffe, Missbrauch, Pornographie, Promiskuität, Prostitution)»
Quelle
- (1) SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz, Für die Bildung zur sexuellen Gesundheit in der Schweiz, 2011, S.6
- (2) D-EDK, Lehrplan 21, 2014/2016